„Leo hat Wort gehalten. Er hat die Blutmenge nahezu verdreifacht.“ Mit diesen Worten überreichte Sylvia Anna einen silberfarbenen Koffer.

Anna öffnete den Koffer. „Die Blutmenge verdreifacht? Ich dachte er stellt künstliches Blut her.“

Sylvia zuckte mit den Schultern. „Bisher hieß es nur, dass das nicht geht. Er sagte, dass die Flüssigkeit nicht die Eigenschaften von Blut hätte. Wie auch immer! So wie ich das verstanden habe, kann er Blut vervielfältigen. Das war von so großer Bedeutung, dass mein Vater ihn entführen ließ. Ich glaube, sein Ehrgeiz trieb ihn dazu, das im Internet über synthetisches Blut Gelesene zu überprüfen. Im Internet war ja nichts mehr zu dem Thema zu finden.“

Anna sah in den Koffer und runzelte die Stirn. Bevor sie fragen konnte sagte Sylvia: „Das ist Markus‘ Reisekoffer. Leonhard hat ihn und unsere Koffer umgebaut. Wir müssen ihm deinen Koffer auch noch geben. Er hat das Geheimfach entfernt und die Kühlung unauffällig in den Seiten untergebracht. Wir haben keine Blutbeutel mehr, sondern benutzen jetzt braune Flaschen aus Kunststoff.“

Die beiden Frauen bereiteten sich gut auf ihre Reisen vor. Ihre Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass auch Edgars, Georgs und Adrianas Koffer ausreichend mit Vorräten befüllt waren. Unauffällig zu sein, bedeutete auch, dass sie sich wie Menschen verhielten und beispielsweise Kleidung wechselten. Die Koffer waren groß genug, um die Blutvorräte und ein bisschen Menschenkram unterzubringen.

Anna schlug den Koffer zu und folgte Sylvia, die zur Tür ging. Beide machten sich auf den Weg ins Kellerlabyrinth. Die Tür zur Bibliothek stand offen. Anna konnte Georg sehen. Er hatte sich über den Tisch gebeugt und studierte mehrere Karten. Auch er bereitete sich sorgfältig auf seine Reise nach Deutschland vor. Markus hatte ihm einen Laptop überlassen mit der Idee, so viele Informationen wie möglich über den Zielort zu sammeln.

Anna war gespannt, ob und was er über das Internet herausfinden würde. Sie selbst hatte sich mit den hochmodernen Medien noch nie beschäftigt. Falls sie Zeit finden und die Sache mit Pedro lebend überstehen sollte, wollte sie das nachholen. Sicher konnte ihr Georg dabei helfen. Sie musterte Georgs Rücken und lächelte in sich hinein bevor sie sich abwandte.

Sylvia öffnete den Eingang zu dem faszinierenden unterirdischen Reich und Anna folgte ihr. Sie gingen direkt zu Leonhards Labor, wo in einer speziellen Kühlung die unterschiedlich „gereiften“ Blutvorräte lagerten. Sylvia wusste genau, welche Vorräte sie entnehmen durfte und welche nicht.

Leonhard stand konzentriert an einer der neuen Apparaturen. Steffi kümmerte sich um den alten Herstellungsprozess, der das Blut vervielfältigte. Sie stapelte die exakt beschrifteten Behälter in eine der Kühltruhen um, während am Ende einer kompliziert aussehenden Apparatur eine blassrote Flüssigkeit in einen großen bauchigen Glaskolben tropfte.

Sylvia und Leonhard sprachen nie viel miteinander. Die Vampirfrau respektierte ihn wegen seines Genies. Sie glaubte, er war Adriana immer noch irgendwie verbunden und höchstwahrscheinlich nur wegen ihr hier. Er hatte nie über William mit ihr gesprochen. Sie spürte aber, dass er alles was mit ihrem Vater zu tun hatte verabscheute. Er kannte die Art seines Todes und wusste, dass Sylvia damit zu tun hatte. Am meisten nahm er ihr wahrscheinlich übel, dass sie Adriana zu einem Vampir gemacht hatte. Allerdings wäre Adriana jetzt nicht mehr da, wenn sie es nicht getan hätte. Wahrscheinlich würden sie sich nie wirklich mögen, aber das war auch nicht notwendig. ‚Adriana ist jetzt eine von uns‘, dachte Sylvia bei sich während sie ihn beobachtete. ,Und Adriana finanziert deine Spielchen, lieber Leo.‘ Nein, das war ungerecht. Schließlich profitierte auch sie von diesen „Spielchen“. Leo wollte aber auch, dass sie kein Blut mehr stehlen, welches die Menschen dringend für sich selbst benötigten. Es war ein Geben und Nehmen, so wie die Welt schon immer funktionierte.

Anna war zu dem kunstvoll vergitterten Fenster im Labor gegangen und sah hinaus. Sylvia folgte ihr. Die See war dunkelgrau und aufgewühlt und die Wolken zogen schnell. Je länger sie das nasse kalte Schauspiel durch das Fenster beobachtete, desto mehr verstand sie Leonhard. Dessen Gefühle mussten genauso aufgewühlt und dunkel sein und voller Melancholie. Er liebte seine Adriana und konnte sie nicht haben, obwohl sie Tag für Tag in seiner Nähe war. Sylvia selbst hatte es da nicht so schwer. Auch sie hatte ihre Liebe verloren. Aber sie konnte trauern. Vergessen würde sie Thomas nie, jedoch konnte er sie nicht mit ständiger Gegenwart quälen.

Sylvia wandte sich vom Fenster ab und musterte wieder den jungen Mann. Eine Woge tiefen Mitgefühls überkam sie. Helfen konnte sie ihm aber nicht. Also nahm sie Annas Hand und sagte nur kurz: „Wir wollten nur die Vorräte für alle abholen.“

Leonhard sah nicht einmal hoch. Er nickte nur.

 

Adriana stand vor dem Spiegel im Badezimmer und malte mit einem roten Lippenstift einen Strich auf ihre Wange. Es dauerte keine drei Sekunden, und der Strich auf der Wange rollte sich wie ein trockenes Blatt zusammen und fiel ab. Sie probierte dasselbe auf den Lippen und wartete drei – fünf – zehn Sekunden. Die Farbe hielt. Noch einmal malte sie kräftig darüber. Aber das war ihrem Innenleben, dem Vampirgift, dann doch zu viel und die Farbe schälte sich wieder ab. „Aha! Zuviel willst du also nicht!“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. „Aber die Perücke kannst du nicht ändern.“

Eine blonde Pagenfrisur zierte Adrianas Kopf. Sylvia hatte Adrianas Haare am Kopf festgesteckt und die Perücke angepasst. Sie saß perfekt. Auch die Kleidung, die Sylvia ausgesucht hatte, saß perfekt. Sie trug einen braun-weiß-karierten Rock und einen weißen Rolli dazu. Auch der braune Blazer, den sie sich beim Verlassen ihres Zimmers über die Schultern warf, sah super dazu aus. Unten wartete bereits Markus, der sie nach Inverness mitnehmen sollte. Er reichte ihr zwei von den neuen Handys, die er und Edgar mitgebracht hatte. Eins war für sie selbst und eins für Frank.

Da sie nicht wussten, ob Pedro Frank schon überwachte, waren sie in einem abgelegenen Pub an der Küste verabredet. Markus wollte die Umgebung dieses Gasthauses sehr genau inspizieren, bevor er Adriana dort aussteigen ließ.

In einiger Entfernung parkte Markus auf der menschenleeren Küstenstraße. Sie mussten nicht lange warten. Bald sahen sie Scheinwerfer, die sich langsam durch den Regen näherten. Ein einsames Taxi hielt vor dem Pub. Frank stieg aus und ging schnell hinein. Das Taxi fuhr wieder davon. Alles blieb ruhig. Kein Mensch war bei diesem Wetter auf der Straße. Der Pub war hier das vorletzte Haus, bevor die Straße in unbewohntes Gebiet führte. Einige Fenster der Nachbarhäuser waren hell erleuchtet. Diesen schenkte Markus eher wenig Beachtung. Die dunklen Fenster jedoch checkte er eins nach dem anderen sehr genau.

Adriana wartete geduldig. Endlich war sich Markus sicher, dass keine Gefahr drohte und stieg aus. Gemeinsam gingen die beiden zum Pub hinüber. Sie setzten sich erst einmal an die Bar. Frank registrierte das Pärchen und schaute wieder weg. Sehr gut. Er hatte Adriana also nicht erkannt. So sollte es sein.

Frank war der einzige Gast. Die Bedienung brachte Adriana einen schwarzen Kaffee. Markus konnte auch hier nichts Bedrohliches feststellen und verabschiedete sich. Er wollte in drei Stunden zurück sein. Das war genug Zeit, um Frank alles zu erklären. Sie wartete, bis die Tür hinter Markus ins Schloss fiel und wandte sich Franks Tisch zu. Frank starrte sie an und ganz langsam änderte sich sein Gesichtsausdruck in ein ungläubiges Grinsen. Als Adriana lächelte stand Frank auf, kam ihr entgegen und schloss sie in die Arme.

„Hallo meine Kleine", begrüßte er sie und hielt sie nun musternd ein Stück von sich weg. „Egal, wie du dich verkleidest, dein Lächeln verrät dich.“

„Hallo Frank. Dann muss ich wohl zukünftig vorsichtiger sein.“ Adriana schmunzelte und wurde gleich darauf wieder ernst. „Ich habe dich vermisst.“

Frank erwiderte bedauernd: „Ich dich auch. Und Leonhard. Und Steffi. Ich hoffe, du kannst mir erklären, warum ich niemanden von euch erreiche und mich dieser Edgar von einer öffentlichen Telefonzelle in Inverness anruft, um für uns Verabredungen zu planen und warum ich Passfotos mitbringen sollte.“

„Ja“, erwiderte Adriana, „Ich kann das alles erklären. Setzen wir uns erst einmal.“

Die Vampirfrau holte ihren Kaffee und sah sich kurz nach der Bedienung um, die hinter der Bar Gläser polierte. Dann setzte sie sich zu Frank an den Tisch und fing leise an zu berichten.

„Bisher weißt du über William nur, dass er das Monster war, das Leo entführt hatte. Leider gibt es noch schlimmere Monster als ihn und leider stecken wir jetzt sehr tief in der ganzen Geschichte mit drin.“

Adriana erzählte die Geschichte von William. Sie ließ nichts aus, weil sie glaubte, dass sie Frank das schuldig war. Er war so völlig unschuldig in die ganze Sache hineingeschlittert, wurde lange Zeit im Ungewissen gelassen und war doch derjenige gewesen, der als Einziger nie an ihr gezweifelt hatte. Sie hörte erst auf zu sprechen, als sie auch alles über Pedro und Annas Verdacht berichtet hatte.

Frank schwieg. Er betrachtete nachdenklich seine leere Kaffeetasse. Schließlich sah er Adriana traurig in die Augen.

Adriana wusste, dass er für sie und Leonhard und auch für Steffi alles aufgegeben hatte. Er hatte geplant, sich in Schottland etwas Neues aufzubauen. So wie es aussah, musste er seine Pläne nun ändern. Nach einem tiefen Atemzug fragte er: „Und nun? Ich denke, ihr habt schon einen Plan. Warum sollte ich sonst Passfotos mitbringen? Muss ich jetzt Vampir werden oder irgendwie sterben, um als ein anderer wieder aufzuerstehen?“

Adriana schluckte und wollte an ihrer Tasse nippen, als sie bemerkte, dass der Kaffee kalt war. Sie stellte die Tasse wieder ab und sagte geknickt: „Es ist deine Entscheidung. Das was Edgar für dich vorbereitet hat, dient nur deinem Schutz. Wir wollen auf keinen Fall, dass du diesen ganzen Geschehnissen zum Opfer fällst.“ 

Adriana schwieg und ließ sich in die Lehne ihres Stuhles zurückfallen. Frank sagte nichts.

Nach einiger Zeit hob Adriana den Blick und merkte, dass Frank sie beobachtete. Seine Miene war nicht abweisend oder wütend. Frank sah sie neugierig an und wartete, dass sie weiterredete: „Du musst nicht Vampir werden und auch nicht sterben. Edgar möchte, dass du ganz offiziell als Frank Bentlig Schottland verlässt und als ein anderer zurückkehrst.“ 

Frank schürzte die Lippen: „Und wie werde ich ein anderer?“

„Wie Edgar das macht, weiß ich nicht“, antwortete Adriana und schob ihm das Prepaidhandy zu, „Da brauche ich auch nicht zu fragen. Es reicht, wenn du dir einen Namen und ein Geburtsdatum ausdenkst. Deine Geburtsstadt ist Berlin, das geht wohl nicht anders. Wenn du dich dann entschieden hast, dann sagt dir Edgar ganz genau, was du tun musst.“

 

„Wo fahren wir jetzt hin?“, fragte Adriana Markus als sie bemerkte, dass er den Wagen wendete und nach Inverness zurückfuhr.

„Wir holen die Einkäufe ab“, antwortete er, „Ich habe mir ein Möbelauto geliehen, mit dem wir zurückfahren. Dann bringe ich das Möbelauto zurück und werde mit einem speziellen Hänger noch Stahlplatten zur Burg transportieren. Der Jeep sollte das schaffen. Allerdings hatte ich einige Mühe, dem Verkäufer klarzumachen, dass ich beim Abladen keine Hilfe brauche. Die wollten einen Kran anliefern!“ 

Markus brach ab und grinste. „Ich konnte ihm ja schlecht sagen, dass ein Vampir ausreicht und schon gar nicht, wo die Stahlplatten hingebracht werden sollen.“

Adriana schmunzelte und spielte gedankenverloren mit dem Anhänger ihrer Halskette. In letzter Zeit trug sie wieder diesen glitzernden Schneestern, den Leonhard ihr an ihrem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest geschenkt hatte, obwohl der rote Anhänger, den sie davor seit dem Tag von Williams Tod, getragen hatte, viel geheimnisvoller funkelte. Da fiel ihr ein, dass sie Markus noch etwas fragen wollte.

„Wie ist das eigentlich mit dem Silber? Mit Silber können Vampire getötet werden. Aber dieser Schneestern hier um meinen Hals stört mich überhaupt nicht“, fing sie an.

„Dieser Schneestern will dich auch nicht töten oder verletzen“, antwortete Markus, „Aber Silber schafft es, die Haut eines Vampirs zu durchdringen. Silber und eine bestimmte Sorte Glas, wobei eine Wunde, die mit Silber verletzt wird, wesentlich langsamer heilt. Georg und ich haben es ausprobiert. Vielleicht gibt es auch noch andere Materialien, die uns verletzen können. Aber alle bekannten Metalle, aus denen herkömmliche Schwerter, Messer oder sonstige Schneid- und Stichwerkzeuge gearbeitet werden, können der Haut eines Vampirs nicht schaden.“ 

Er grinste, als er sich offenbar an etwas erinnerte. „Das war damals toll“, fuhr er fort, „wir konnten im Schwertkampf mit normalen Schwertern trainieren, ohne uns zu verletzen.“

Doch Adriana fiel plötzlich etwas ein. „Wie ist das eigentlich mit Pfeilen?“, fragte sie. 

Markus fuhr gerade in ein Parkhaus und antwortete nicht gleich. „Du meinst Pfeile vom Bogenschießen?“ 

Adriana nickte zustimmend. Markus hatte es jedoch nicht gesehen, weil er gerade rückwärts einparkte.

„Pfeile prallen ab. Es sei denn, die Pfeilspitzen sind aus Silber.“ Er schaltete den Motor ab und sah Adriana an. „Silber kann einen Vampir nur verletzen oder töten, wenn es mit dem Willen, dies zu tun eingesetzt wird. Aber warum fragst du nach Pfeilen?“

„Leo erzählte mir einmal, dass er in einem Verein das Bogenschießen trainierte.“

„War er gut?“, fragte Markus und Adriana zuckte mit den Schultern. „Wenn ja, dann wäre er eine gute Unterstützung, wenn wir uns verteidigen müssten. Wenn er allerdings nicht trifft, ist er verloren. Du weißt, wie schnell Vampire sind.“ 

Als Adriana sich umdrehte, um die Autotür zu öffnen, ergriff er ihren Arm und warnte eindringlich: „Überleg dir gut, ob du Leonhard diesen Vorschlag machen willst. Steffi hat mich übrigens auch schon gefragt, ob ich mit ihr trainieren könnte. Doch ein Mensch hat gegen die Schnelligkeit und Kraft eines Vampirs keine Chance. Sie sollten sich lieber verstecken! Beide!“ Dann ließ er sie los und stieg aus.

Auch Adriana verließ das Auto und lief nachdenklich neben Markus her. Schließlich sagte sie: „Du hast ja recht. Wo sollten wir auch silberne Pfeile herbekommen ohne Fragen aufzuwerfen!“