Leseprobe Nr. 1:
Offenbar hatte Adriana alles richtig gemacht. Die Männer sahen ihr hinterher, die Frauen runzelten verärgert die Stirn und der Kellner, der den Kaffee brachte, behandelte sie äußerst zuvorkommend. Am liebsten hätte sie laut losgelacht und setzte sich halb mit dem Rücken zum Frühstückssaal. Nachdem sie sich wieder unter Kontrolle hatte drehte sie den Kopf und suchte das Buffet. Ein paar der anwesenden Herren starrten in ihre Kaffeetassen, so als ob darin etwas Spannendes vorging. Normalerweise machte Adriana nicht viel Aufheben um ihr Aussehen. Sie bevorzugte bequeme, eher sportliche Kleidung, schminkte sich fast nie und blieb meistens damit unauffällig.
Aber im Moment hatte sie Spaß und ließ ihre Hüften extra kreisen auf dem Weg zum Buffet. Auf dem Weg zurück zu ihrem Tisch musste sie feststellen, dass von den wenigen anwesenden Frauen einige fehlten und die zurückgelassenen Männer sich mit dem Austrinken des Kaffees oder der Speisekarte oder der sorgfältig gefalteten Zeitung sehr viel Zeit ließen.
‚Tsss! Männer!‘, dachte sie aber freute sich über diese Reaktionen. So konnte sie hoffen, dass ihr Anblick auch Eindruck auf Thomas Wind machen würde. Das Buffet war nicht ganz so exklusiv wie im Steigenberger Inselhotel, aber dennoch ein gutes Hotelfrühstück, welches Adriana sehr genoss.
Nachdem sie das Frühstück beendet hatte, holte sie noch ihre Handtasche aus dem Hotelzimmer und machte sich auf den bereits bekannten Weg zur St. Karli Primarschule.
Unterwegs rief Adriana die Schulleiterin an und bat um ein Gespräch. Als sie ihr Auto eingeparkt hatte und zur Eingangstür des Schulhauses lief bemerkte sie, dass sie bereits erwartet wurde. Die Schulleiterin stellte sich mit Frau Portli vor und bat Adriana, sie in ihr Büro zu begleiten.
„Nun, Frau Weidner, Sie sind hier wegen unseres Lehrers Thomas Wind?“
„Ja“, antwortete sie und holte das Buch aus der Handtasche, „Ich wollte gern mit Herrn Wind über dieses Buch sprechen. Wäre es möglich, dass Sie ihm diese Nachricht überbringen. Ich würde dann nach Schulschluss wiederkommen, sofern Herr Wind momentan keinen Freiraum hat.“
Frau Portli starrte das Buch an und seufzte. Sie stand auf und holte ein zweites Exemplar dieses Buches und legte es auf den Tisch.
„Leider können Sie nicht mit Herrn Wind sprechen.“
Adriana zog eine Augenbraue nach oben und wartete ab. Die Schulleiterin seufzte erneut und fuhr fort: „Vor ungefähr drei Jahren ging Thomas nach Schulschluss nach Hause. Er kam nie wieder und seitdem hat ihn auch niemand wieder gesehen. Wir stellten Nachforschungen an. Doch Thomas war verschwunden und niemand hatte ihn gesehen. Ein paar Monate nach seinem Verschwinden erschien dieses Buch. Ich kaufte das Buch und hoffte, dass es Aufschluss über den Verbleib unseres Lehrers gibt.“ Frau Portli verstummte und sah Adriana fragend an. „Was halten Sie von diesem Buch?“
Diese Frage kam unerwartet. Mit einem langgezogenen „Hmmm, tja…“, versuchte Adriana Zeit zu schinden und fieberhaft eine Antwort zu finden, die nicht lächerlich klang. Schließlich kam ihr eine Idee: „Ich wollte Herrn Wind eigentlich fragen, ob ich seine Ideen übernehmen darf. Ich will selbst einen Fantasy-Roman schreiben und fand seine Beschreibung zu Vampiren irgendwie sehr logisch.“ Sie räusperte sich. „Chrm, naja für Fantasy-Verhältnisse natürlich.“ Adriana starrte auf das Exemplar des Buches der Schulleiterin und fuhr fort: „Es ist natürlich alles sehr mysteriös, wenn man den Schluss des Buches betrachtet.“
„Ja“, antwortete Frau Portli, „Im Nachhinein stellte ich noch weitere Ungereimtheiten mit dem Verschwinden von Thomas Wind fest. Zunächst einmal erschien dieses Buch in einer Auflage von nur 500 Exemplaren. Ich recherchierte selbst nach Thomas Wind und seinem Buch und entdeckte in einer großen Tauschböse einen Käufer mit dem Namen Dracula“, bei der Erwähnung dieses Namens schnellten die Augenbrauen von Frau Portli spöttisch nach oben, „und fand mit Hilfe der Polizei heraus, dass dieser Dracula bereits 489 Exemplare dieses Buches erstanden hatte. Die Polizei hat Thomas Wind oder diesen mysteriösen Dracula bis zum heutigen Tag nicht gefunden und auch keinerlei Hinweise, die uns helfen könnten, unseren beliebten Lehrer wiederzufinden.“ Sie machte kurz Pause und musterte Adriana misstrauisch. „Und wissen Sie, was auch komisch ist?“
Adriana schüttelte den Kopf und sah Frau Portli fragend an.
Die Schulleiterin beugte sich vor und sprach in einem misstrauischen Ton weiter: „Im Winter des letzten Jahres erschien bereits schon einmal eine äußerst hübsche junge Dame hier und fragte nach Thomas Wind.“ Sie ließ diese Aussage im Raum stehen und Adriana richtete sich ärgerlich auf.
„Was wollen Sie damit andeuten? Wollte diese Frau etwa auch einen Fantasy-Roman schreiben?“
Das Misstrauen wich aus den Augen der Schulleiterin. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah Adriana traurig an. „Nein wollte sie nicht. Sie suchte nach Thomas und fragte mich, ob ich ihr helfen könne, ob noch Angehörige existierten. Doch Thomas war ledig, ein Einzelkind und hatte seine Eltern bei einem Flugzeugabsturz verloren. Ich fand halt nur komisch, dass sie mich beim Abschied fragte, ob ich ein Exemplar seines Buches besäße. Ich habe gelogen.“ Sie seufzte und murmelte. „Immer und immer wieder dieses Buch!“
Adriana schwieg. Offenbar war Thomas Wind sehr beliebt gewesen und Frau Portli hätte ihn gerne wieder an ihrer Schule. Thomas Wind war also verschwunden. Sagte das Buch die Wahrheit und er suchte nach Sylvia? Warum kaufte jemand dieses Buch in so großer Menge?
„Wissen Sie“, sagte Frau Portli plötzlich, „als Sie heute anriefen und Thomas Wind zu sprechen wünschten, hatte ich die Hoffnung, dass Sie uns Hinweise zu seinem Verschwinden geben könnten. Diese Hoffnung ist nun dahin. Ich glaube mittlerweile daran, dass die Sache mit dem Buch irgendwie auch mit seinem Verschwinden zusammenhängt. Vielleicht gibt es diese Sylvia ja wirklich.“
„Sie glauben an Vampire?“, unterbrach Adriana sie ungläubig.
„Nein, so ein Unsinn! Ich glaube nicht an Vampire. Aber vielleicht war diese Sylvia ja tatsächlich eine mysteriöse junge Frau, in die sich Thomas verliebt hatte. Ich hätte mir für Thomas die große Liebe gewünscht, weil er immer so einsam und doch so kinderlieb war. Wir hätten ihn so gern zurück.“ Die Schulleiterin hatte sich resigniert zurückgelehnt und schien über irgendetwas nachzusinnen.
„Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann“, sagte Adriana und erhob sich. Sie wollte jetzt raus und musste ihre Enttäuschung verarbeiten. Sie reichte der Schulleiterin die Hand. „Auf Wiedersehen und viel Glück bei ihrer Suche!“
Frau Portli war aufgestanden und drückte Adriana die Hand: „Vielen Dank, auf Wiedersehen!“ Sie atmete tief durch und fügte noch hinzu: „Sie finden allein hinaus?“
„Ja“, antwortete Adriana und verließ das Büro.